Raureifkinder
Einst lebte ein Holzfäller glücklich mit seiner geliebten Frau und seinen beiden Kindern, ein Junge und ein Mädchen, tief im Walde. Reich waren sie nicht, doch der Mann verdiente mit Holzschlagen genug um alle gut über die Runden zu bekommen, seine Frau verdiente als Wäscherin noch etwas dazu, und die Kinder halfen wo sie konnten. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit der kleinen Familie, denn eines Frühlingsmorgens geschah ein schrecklicher Unfall. Der Vater war beim Holzmachen über einen abgehauenen Ast gestolpert und so unglücklich gestürzt, dass sich ein anderer Ast sich tief in den Oberschenken hineingebohrt hatte. Auf seinen kleinen Sohn gestützt kehrte er schließlich frühzeitig heim, und obwohl ihm seine Frau die Wunde sauber wusch, entzündete sich diese.
Der Vater fieberte stark und brauchte schnell Hilfe, doch Geld gab es keines und so schied er dahin.
Der Tod des geliebten Mannes brach der Mutter das Herz und so mussten die beiden Kinder hilflos mitansehen wie auch noch ihre Mutter dahinwelkte. Zu essen gab es bald nichts mehr, denn holzschlagen konnten die beiden nicht und Mutter war zu schwach dazu, und andauernder Regen vernichtete im Sommer die Ernte auf dem kleinen Acker vor dem Hause. So kam was unausweichlich war, auch Mutter schied aus dem Leben. Nun waren die beiden Kinder Weisen.
Sie wussten nicht was sie tun sollten, denn daheim konnten sie nicht bleiben. Somit blieb ihnen nichts anderes übrig als die wenigen Habseligkeiten, die sie besaßen, zu packen und den Wald zu verlassen. Gemeinsam wanderten die Kinder über Flur und Feld, tranken aus Bächen und aßen Nüsse und Beeren und nachts schliefen sie unter den Bäumen.
Der Sommer wich dem Herbst, die Tage wurden kürzer und die Nächte kälter. Den Kindern viel es immer schwerer etwas zu essen zu finden. Eines Nachmittages erreichten sie schließlich eine kleine Stadt. Es war gerade Markt, und als die zwei an den zahlreichen Ständen vorbeischlenderten, wurden ihre Augen groß. Überall wurden Waren feil geboten, bunte Stoffe, prächtige Schmiedearbeiten, und ein paar Bauern verkauften Brot und Käse. Die Kinder liefen knurrenden Magens zu einem der Stände hin und griffen nach einem großen Laib. Da sprach der Bauer „Zwei Silbermünzen für den Laib verlange ich“. Die Kinder durchwühlten ihre Taschen und als sie nichts fanden, antworteten sie: „Bitte, wir haben nichts, keine einzige Münze. Und wir haben solchen Hunger.“
Mittleidig sah der Mann sie an, „Es tut mir leid, ich habe selbst kaum was und kann euch das Brot nicht geben. Vielleicht habt ihr anderswo mehr Glück.“ Da ließen die Kinder ihr Köpfchen sinken und zogen weiter, in der Hoffnung in der nächsten Stadt etwas Brot zu bekommen. Doch überall hörten sie das gleiche. Der Regen habe die Ernte vernichtet und Nahrung sei knapp, und nur im Tausch gegen klingende Silbermünzen zu bekommen.
Ausgehungert und entkräftet kamen die Holzmacherkinder eines Abends zu einer alten Buche am Rande einer großen Wiese, dort wollten sie für die Nacht bleiben. Mittlerweile waren die Nächte bitter kalt, und bald würde der Winter kommen. So schmiegten sich die Geschwister aneinander und schliefen schließlich ein. Und als sie am nächsten Morgen müde die Augen öffneten, da war die Freude groß. Überall auf der Wiese lagen silberne Münzen, soweit der Blick auch lief. Schnell sammelten die beiden die Taler auf und stopften sie in ihre Taschen. Dann eilten sie in die Stadt zum Bäcker. Hastig suchten sie sich einen großen Kanten Brot aus, und wollten dem Mann sein Geld geben. Doch als in ihre Taschen fassen und die Münzen heraus nahem, da erkannten sie, wie die Silberstücke in ihren Händen schmolzen. Erbost nahm der Bäcker das Brot an sich und sprach: „Wolltet ihr mich narren und mit Raureif ausbezahlen? Geht!“
Traurig und hungrig nahmen die Geschwister ihre Sachen und verließen die Stadt. Am Abend kehrten sie zur Buche zurück, zu Essen hatten sie nichts mehr gefunden, weder Beeren noch Wurzeln. Sie kuschelten sich aneinander und schliefen schließlich ein, doch als am nächsten Morgen die Sonne aufging, da erwachten die beiden nimmer mehr.
Ein mancher Wandersmann weiß zu berichten, dass im Morgengrauen an kalten Herbsttagen man die beiden Kinder auf den Heiden spielen sieht. Und manchmal, wenn der Hunger der Wandersleute gar zu groß ist, sagen sie, legen die Raureifkinder den Mittellosen helle Silbermünzen auf das Gras, damit sie nicht das selbe Schicksal erleiden müssen wie sie.