Die weinende Thara

Aus Gilead Wiki
Wechseln zu: Navigation, Suche

Vor vielen, viele Jahren da herrschte in Merowing der weiße Großherzog Francesco. Unter seiner Herrschaft blühte das Land, der Handel florierte und die Menschen lebten in Glück und Zufriedenheit. Sie liebten ihren Milden Großherzog und dessen liebevolle Gattin Amalia, denn sie sorgte aufopfernd für die Armen und Kranken des Landes.

Der Großherzog hatte auch einen Bruder, Emilio, der Landgraf des Grandetto. Beide waren gemeinsam groß geworden, trennten die beiden doch nur wenige Minuten bei der Geburt. Und wie so oft der Fall es ist bei den hohen Herren, neidete der jüngere dem älteren Bruder die Herrschaft, das Land und die Liebe des Volkes. Doch Emilio neidete Francesco nicht nur das Großherzogtum, sondern auch die Gattin, denn in ihrer Jugend hatten beide um Amalia geworben. Seit sie Emilio zurückgewiesen und sich für dessen Bruder entschieden hatte, schielte er mit Verachtung und Neid auf deren Glück. Emilio hatte sich damals zurückgezogen und sinnte nach Vergeltung, denn schon immer war er davon überzeugt gewesen, dass sein Vater ihn betrogen hatte. Er war überzeugt, dass man ihn und seinem Bruder nach der Geburt vertauscht hatte, und er, Emilo, rechtmäßig am Throne sitzen sollte, und nicht Francesco, der eigentlich jüngere. Denn dann hätte auch ihm Amalia gehört. So gehrte in Emilio der Hass, bis in ihm der Plan heranreifte seinen Bruder zu beseitigen und sich selbst auf den Thron zu setzen. Dann würde er auch Amalia ehelichen können.

Mit diesem Plan im Gedanken lud Emilio den Großherzog zum Ausritt auf sein Landschloss ein. Gerne folgte der Großherzog der Einladung, glaubte er doch sein Bruder, der Landgraf, habe die Unstimmigkeiten vergessen. Gemeinsam gingen also die beiden ungleichen Geschwister auf die Wildschweinhatz. Beinahe wirkte es so als habe Thara den Frieden zwischen den beiden wieder errichtet.

Lange ritten die Brüder durch den Wald, ihr Gefolge hatten sie längst zurück gelassen. Da ließ Emilio die Falle zuschnappen. Der jüngere führte den Großherzog auf eine Lichtung, erst kürzlich waren hier die Bäume gefällt worden, überall ragten Baumstümpfe aus dem Boden. Emilio überquerte die Wiese, dicht gefolgt von Francesco. Als der Großherzog sich unter einem Fichtenast hinwegduckte um wieder in den Wald zu gelangen, da sprang ein Scherge Emilios im Bärenfell aus dem Dickicht hervor. Emilios Pferd war darauf abgerichtet worden und erschrak nicht, doch das Pferd Francescos scheute, und bäumte sich wiehernd auf. Der Großherzog versuchte sich verzweifelt im Sattel zu halten um nicht abgeworfen zu werden. Er hätte es geschafft, hätte nicht Emilio seinem Bruder einen heftigen Stoß in die Seite gegeben. Francesco rutschte aus dem Sattel und stürzte. Ein lautes Knacken war zu hören, als der gute Herzog auf einem der Baumstümpfe aufschlug. Sein Kreuz brach, der Großherzog war tot.

Die Trauer im Lande war groß, als man den weisen und mildtätigen Herrscher Francesco zu Grabe trug. Das Volk glaubte Francesco sei bei einem Jagdausflug unglücklich ums Leben gekommen. Auch Emilio trauerte um seinen Bruder, doch nur zum Schein. Er war nun zwar Großherzog, aber die schöne Amalia hatte er noch nicht zur Frau. Die Sitte schrieb vor, dass ein Jahr der Trauer eingehalten werden musste, danach würden die beiden sich das Ja-Wort geben. Emilio wartete also, auch hatte er sich noch nicht krönen lassen, das solle bei der Hochzeit geschehen. Er wollte seinen Triumph voll auskosten, gab aber vor, dies aus Respekt vor seinem toten Bruder zu tun. Das Jahr verging und Emilio wähnte seine Träume erfüllt. Die Hauptstadt wurde geschmückt und hergerichtet. Zur Mittagsstunde war es soweit, die Glocken des Tharatempels läuteten zur Hochzeits- und Krönungsmesse.

Aus dem gesamten Reich waren die höchsten Würdenträger zusammengekommen um diesem Fest beizuwohnen, der ganze Tempel war bis auf den letzten Platz gefüllt. Vorne beim Altar wartete Amalia, die schönste Frau Merowings. Gespanntes Schweigen hatte sich über die Gäste gelegt, man wartete auf den Großherzog, der gleich durch das Hauptportal in einem feierlichen Zug den Tempel betreten sollte. Da öffneten sich die Tempeltore und Emilio betrat den Heiligen Boden des Kirchenschiffes, gefolgt von seinen Vasallen und Lehensmännern. Gemessenen Schrittes näherte er sich dem Altar. Endlich war er am Ziel! Vor dem Altar beugte er die Knie und senkte das Haupt, bereit die Krone zu empfangen.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge, Getuschel wurde laut. Der weißen Thara, der schönsten Statue der friedfertigen Göttin, quollen blutrote Tränen aus den Augen und rannen über ihre Wangen und vielen auf die Erde. Dort wo die Tränen den Boden benetzt hatten saß eine weiße Taube, ein heiliges Tier der Göttin. Den Blick auf Emilio gerichtet. „An des Bruders Händen klebt des Bruders Blut. Verflucht sei der Frevler, der die Gesetzte der Herrin bricht!“, mit diesen Worten flog das Tier auf, und auf einmal war es verschwunden. „Seine Hände sind blutig!“, rief der Graf von Bell und deutete auf Emilio. Dieser versuchte eiligs seine Hände zu säubern, aber vergeblich. Das Blut klebte auf seinen Fingern. Die Göttin Thara hatte gesprochen und Emilio ihren Segen verwehrt und für den Brudermord gebrandmarkt. Der neidische Bruder wurde nicht zum Großherzog gekrönt, und auch die Hand Amalias blieb ihm verwehrt.