Die blinde Weberin von Geißlingen
Einst lebte im Dorf Geißlingen, heute mittlerweile zur Stadt gereift, eine alte Frau namens Martha. Seit ihrer Geburt hatte sie ein schlechtes Augenlicht und in der Jugend erblindet sie vollends. Am elterlichen Hof half sie so gut sie konnte. Sie spann sie Wolle, knetete den Brotteig Woche für Woche und rührte Butter. Heiraten wollte keiner die Blinde und so blieb sie, als ihre Eltern verstarben, am Hofe, den ihre jüngere Schwester Zenza mit ihrem Mann weiterführte. Sie half den beiden weiterhin, und hütete daheim die Kinder während ihre Schwester und Schwager am Felde arbeiteten. Bald brachten auch andere Familien ihre Kinder zur Blinden, die alle liebevoll „Tante Martha“ nannten. Als Dank nahm sie nicht viel, doch half es der Familie leichter durch die Winter zu kommen. Die Kinder liebten die alte Blinde besonders und gerne kamen sie zu ihr, denn immer erzählte sie ihnen Geschichten und Märchen, während sie selbst am Webstuhl saß. Den Webstuhl hatte sie vom örtlichen Weber vermacht bekommen, als dieser ohne Kinder und Frau verstorben war. Nun webte sie täglich Stoff für das Dorf. Zwar konnte sie nicht sehen, doch spürte sie an der Wolle was sie tat, und für arme Bauersleut war die Qualität gut genug. Trotz ihrer Blindheit erkannte sie, welche Farben sie verwendete, sie spürte die Unterschiede. Mit dem Alter kam die Weisheit. Die gewebten Stoffe wurden feiner, und sehr beliebt. Denn man sagte ihnen wundersame Kräfte nach. Kinder wurden mit ihrem Leinen seltener krank, Holzknechte sich verletzten kaum oder ein junge Brautpaare wurden bald vom Glück gesegnet. Jedem der zu Martha kam, blickte die Alte ins Herz, und wenn dieses rein und wahrhaft war, dem webte sie ihre besten Wünsche mit jedem Faden ins Tuch. Meist erzählte sie dann auch dazu passende Geschichten, wenn auch nur für sich allein. So kam es, dass man der alten Tante Martha zuschrieb, dass. Bald erzählten man sich in jeder Schenke in und um Geißlingen von den glückbringenden Stoffen der alten Martha. Diese Gerüchte drangen auch an das Ohr des hiesigen Barons, einem jungen, aufstrebenden Mann, der danach gierte die Grafenwürde zu erlangen. Das nötige Geschick besaß er, dennoch fehlte es ihm an Glück und an Erfahrung im Kampfe. Daher beschloss der Baron der Alten einen Auftrag zu erteilen. Er entsandte einen Boten nach Geißlingen. Dieser trug der Alten auf, für den Grafen feine Stoffe zu weben, damit ihm das Glück beschieden war. Gern war die blinde Martha dazu bereit und fragte deshalb, welches Gewandt daraus entstehen sollte. Der Bote gab Antwort, doch da verweigerte die Greisin dem Manne den Gehorsam. Sie wollte nicht jemanden das Kriegsglück wünschen, einem der nur an sich selber dachte. Sie wusste, der Baron war ein hartherziger Mann, der keine Milde und Gnade kannte. So wies sie dem Boten die Tür. Der Bote sah ein, dass er nichts ausrichten konnte und kehrte eilends zur Burg seines Herren zurück. Dieser war außer sich vor Wut und befahl die Alte zu verhaften und in den Gefängnisturm zu sperren. Noch am selben Tag stürmten Reiter nach Geißlingen und drangen in das Haus von Martha ein. Diese ließ sich widerstandslos festnehmen, doch unter den anwesenden Kindern brach ein Tumult aus. Mit Fäusten und Stöcken schlugen sie auf die Soldaten ein um ihre Tante Martha aus deren Fängen zu befreien. Die Alte winkte aber ab und schickte die Kinder nach Hause, dann folgte sie den Männern zur Burg, wo sie im Turm eingekerkert wurde. Man brachte ihr einen Webstuhl und feinste Seidenzwirne. Dann kam der Baron und forderte sie erneut auf zu weben, legte ihr seine Absichten dar und drohte damit, dass er die Kinder der Ortschaft niedermetzeln ließe wenn sie sich weiterhin weigere zu weben. Da willigte die Greisin ein und begann zu weben, und bereits am Tag darauf hatte sie ihr Werk beendet und überreichte dem Edelmann den Stoff. Dieser glänzte und war fließend wie Wasser. Hastig warf ihn sich der Baron über die Schulter, da sprach die Alte. Zwar habe sie die besten Wünsche mit eingewoben, doch das Glück würde niemals einem selbstsüchtigen Tyrann hold sein und beschwor ihn fortan gütig und milde zu herrschen. Der Baron aber verhöhnte die Greisin nur und bespuckte sie. Da erscholl das Alarmhorn der Burg und Kampfeslärm drang durch das offene Turmfenster. Eine Menge wütender Bauern und Handwerker hatten das Tor gestürmt und drangen in die Festung ein. Laute Rufe trugen an ihre Forderungen in die Turmkammer, sie verlangten die Freilassung ihrer geliebten Tante Martha. Nur wenige Soldaten leisteten den aufgebrachten Männern und Frauen Widerstand, einige schlossen sich den Aufständischen an, denn auch sie hatten in Kindertagen der Alten gerne gelauscht. Der Baron erkannte seine missliche Lage und öffnete Martha die Tür und stieß sie die Treppe hinab, den Weg nach unten solle sie selber finden. Er schloss sich in wieder in der Kammer ein um den Abzug der Bauern abzuwarten. Um die Aufständischen zu beruhigen trat er zum Fenster und rief hinab, dass er die Alte freigelassen habe und die Bauern abziehen sollten. Da drehte der Wind und der Seidenstoff, den der Baron noch immer über die Schultern trug, bauschte sich in der Böe. Durch diesen Ruck verlor der Edelmann das Gleichgewicht und stürzte in den Tod. So hatte sich die Prophezeiung der alten Martha erfüllt. Sie selber kehrte unversehrt zurück nach Geißlingen und lebte noch viele Jahre glücklich im Kreise der Dorfgemeinschaft.