Die gläserne Harfe

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Vor vielen, vielen Jahren da lebte ein armer Bauer am Rande der Ortschaft Grafenbrück in Kriis. Er war alt, und Familie hatte er keine mehr. Seine Frau lebte seit Jahren nicht mehr, und sein einziger Sohn war auch schon seit langem tot. So lebte der Mann alleine in seiner Hütte und bestellte das kleine Feld vor dem Haus, auch wenn ihm die Arbeit von Tag zu Tag schwerer viel. Immer weniger gab der karge Boden her, und wenn der Winter gar allzu lang war, musste der alte Bauer Hunger leiden.

So kam es, dass auch dieser Winter besonders hart war, und schnell schwanden die Vorräte des Greises dahin. Da trug es sich zu, als der Alte gerade beim Holzmachen im nahen Wald war, dass eine kleine, bärtige Gestalt aus dem Unterholz herauspurzelte und mit dem Kopf voran in den tiefen Schnee stürzte. Der alte Mann stapfte hinüber zu dem Zwerg, packte ihn am Arm und half ihm auf. Der Kleine klopfte sich den Schnee vom Gewand und sah dem Alten in die Augen. „Danke, guter Herr“, sprach das Männlein. „Darf ich mich vielleicht noch einen Augenblick in Eurer Stube aufwärmen?“ Der Alte war verwundert über die Höflichkeit des Zwerges, denn hierzulande kannte man nur die Ruppigkeit und Unfreundlichkeit des Kleinen Volkes. Man misstraute Fremden, aber der Bauer hatte ein gutes Herz und bat das Männlein freundlich in seine Hütte. Schnell schürte der Alte das Feuer, denn er wusste was sich gehört, setzte Wasser für Tee auf und richtete den Tisch. Während er das tat, linste er immer wieder zum Zwerg, der, friedlich auf der Ofenbank sitzend, eingenickt war. Das namenlose Männlein trug zerschlissene, einst prunkvolle, Gewänder, und der Bart war durcheinander und ungepflegt.

Als der Tee schließlich fertig war, goss der Greis dem Zwerg ein. Nach einer Weile schlug dieser die Augen auf, da meinte der Alte: „Ihr müsst hungrig sein, werter Zwerg. Ich führe ein bescheidenes Leben, doch das was ich habe, teile ich gerne mit Euch.“ So tischte der Mann auf, was seine karge Speisekammer hergab, viel war es nicht. Und als das Männlein satt war, stand es auf und ging zur Tür. Dort verneigte es sich tief. „Guter Herr, Ihr habt mich aufgenommen, mich an Eurem Ofen sitzen lassen, und mit mir Euer Essen geteilt als sei ich Euer ältester Freund. Und das obwohl Ihr selber nichts habt. Ich habe nichts bei mir, was ich Euch zum Dank geben könnte.“ Dann stapfte der Zwerg hinaus in den Schnee in Richtung Wald. An der Biegung blieb er nochmals stehen und deutete auf den Boden. „Grabt morgen Früh hier, mein Freund.“, dann winkte er zum Abschied und zog von dannen.

Am nächsten Morgen tat der Mann wie ihm geheißen und Grub an der Stelle. Er wusste nicht wieso er das tat, aber er vertraute dem Zwerg. Eigentlich hätte der Boden vom Schnee und Frost hart wie Stein sein müssen, doch die Erde war weich und locker und schnell hatte der Alte ein Loch ausgehoben. Plötzlich aber stieß er auf etwas Hartes und ein melodisches Klingen erfüllte die verschneite Landschaft. Also Grub der alte Bauer mit bloßen Händen weiter, und nach kurzer Zeit hatte er eine gläserne Harfe geborgen. In seiner Hütte wusch er sie sauber. Es war ein prachtvolles Stück, ganz aus Glas, vom Rahmen bis zur Saite und kunstvoll verziert. Sie schimmerte im Glanz des neuen Morgens. Der Greis freute sich über seinen Fund. Er konnte zwar nicht spielen, aber dennoch legte er seine schmerzenden Finger an die Saiten. Da plötzlich begann die Gläserne Harfe von selbst zu spielen und erfüllte die Stube mit einer zauberhaften Melodie. Noch nie hatte der Alte etwas so schönes gehört.

So beschloss der Bauer am Abend in die Taverne zu gehen und seinen Freunden und Nachbarn das schöne Stück zu zeigen und etwas vorzuspielen. Und als er wieder die Saiten des Instrumentes zupfte da hallte durch den ganzen Schankraum eine Weise, die jeden in ihren Bann zog. Freudig sangen die Gäste mit, denn die Melodie war ihnen vertraut. Schnell flogen die Stunden dahin, schon lange hatte man in Grafenbrück kein solch freudiges Fest gefeiert. Weit nach Mitternacht löste sich die Gemeinschaft auf, und der Alte musste versprechen am nächsten Abend wieder zu kommen und erneut zu spielen. Von nun an spielte der Greis jeden Abend im örtlichen Gasthaus, und immer öfter kamen Menschen von außerhalb um dem Klang der Harfe zu lauschen. Der alte Bauer musste sich aber fortan keinen Hunger mehr leiden oder sich um sein Auskommen sorgen, denn die Gäste der Schenke gaben ihm nur zu gern eine Mahlzeit oder einen Humpen aus, solange er nur weiter spielte.

Manchmal gab es unter den Zuhörern einen begeisterten Musikanten, der darum bat selbst einmal die Gläserne Harfe spielen zu dürfen, doch kein einziger, und war er auch noch so begabt, konnte dem Instrument auch nur einen Ton entlocken. Viele Kaufleute und mancher Adeliger boten dem Alten an bei ihnen zu Hause zu spielen, doch der Greis lehnte ein ums andere Mal ab. Die Reichtümer, die sie ihm anboten, waren ihm gleich, denn er lebte fortan sorglos und glücklich in seiner Hütte bei Grafenbrück.